LESEPROBE
Im Hauptbahnhof verlässt sie den Zug und steigt in die Straßenbahn. Vierzehn Tage zuvor ist sie sechsundzwanzig geworden. Viele in ihrem Alter sind schon verheiratet, haben Kinder. Die meisten Mädchen und Frauen vom Dorf haben keinen Beruf gelernt. Manche arbeiten als Haushaltshilfen, Köchinnen, Wirtschafterinnen, je nachdem wie das Können zu den Ansprüchen passt, in den reicheren Haushalten des Dorfes, oder in der nahen Stadt. Wer Schreibmaschinenkurse belegt hat oder Stenografie, kann es auch als Bürohilfe versuchen, sogar richtige Sekretärin kann man werden, wenn man sich nicht dumm anstellt. Wer gut rechnen kann und sich für Buchhaltung und Kaufmännisches interessiert, kann einen Kurs besuchen oder man bekommt es in einem Geschäft einfach so beigebracht. Als Bezahlung nimmt man, was man bekommt. Aber eine richtige Lehre zu machen oder gar ein Studium das ist auch in den ersten Nachkriegsjahren im ländlicheren Bereich für Mädchen noch immer eine Ausnahme. Man wohnt meist Zuhause bis man heiratet und wenn man ledig bleibt ist das meist selbstverständlich. Die ledigen Kinder oder Geschwister versorgen später die alten Eltern. Dass sie nun doch noch eine richtige Ausbildung mit einem staatlich anerkannten Abschluss machen darf, erscheint ihr deswegen auch ein bisschen wie eine Bevorzugung, die manche um sie herum als ungerecht empfinden und ihr ein bisschen neiden. Wie sie es immer gemacht hat, nimmt sie sich vor alles geben. Sie will es „richtig“ machen. Nur einmal hat sie bisher etwas nicht geschafft. Als sie für ein Jahr zu den Diakonissen geht, um sich weiter zu bilden. Das scheitert, aber weder an mangelnder Bildungsfähigkeit noch an ihrem Willen, sondern an der unerbittlichen Strenge und erbarmungslosen Härte einer Oberschwester. Davon wird sie krank, bis ihr Vater die Reißleine zieht und sie abholt. Trotz dieser bitteren Erfahrung begreift sie mit der Zeit: Den Glauben und das Vertrauen auf Gott wollen einem höchstens Menschen rauben, niemals Gott selbst.
…
Sie streicht sich ein paar Locken aus dem Gesicht, die sich auf den letzten Metern mit dem schweren Koffer in der Sommerhitze selbstständig gemacht und aus dem dicken Knoten gelöst haben, den sie im Nacken trägt. Dann atmet sie mutig durch, zieht einen Flügel der schweren Doppeltür auf und betritt die Eingangshalle der Landesfrauenklinik. Sie muss für einen Moment die Augen zukneifen, um aus der hellen Sonne kommend, sich im Halbdunkel zu orientieren. Da entdeckt sie den Empfangsschalter und geht auf diesen zu. „Hebammenschule?“ nickt freundlich eine Frau hinter der Scheibe und hebt die Augenbrauen während ihre knappe Frage in der Luft hängt. „Hebammenschule“, nickt sie zurück und guckt auch freundlich. Es ist der 1. Juli 1952.
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