Liebe Leserinnen und Leser,
Eigentlich habe ich gerade Feierabend gemacht, nach einem gut gefüllten Haushaltstag. Putzen, Einkaufen, Essen kochen für alle, Kuchen und Kekse backen. Zwischen alle dem für einige Stunden den einjährigen Enkelsohn dabei, der mir die Schubladen ausräumte, nebenher Kartoffelsuppe mampfte und auf den Arm wollte. Ich kann inzwischen viel besser in so einem kleinen Chaos leben, als ich es mit den eigenen Kindern konnte. Im Stillen rüge ich mich oft dafür. Ich hätte viel entspannter sein können mit meinen Kindern. Und ich brauche mir nicht mehr beweisen, dass ich eine gute Hausfrau bin. Ich kann Haushalt, konnte es auch vor 30 Jahren schon, aber selbst, wenn dem nicht so wäre – es käme mir nicht mehr in dem Maße darauf an, wie in meinen jüngeren Jahren.
Doch das nur am Rande. Eigentlich will ich Sie einfach ein paar Momente lang entführen, in ein Bild, das dieser Tage wie aus dem Nichts in mir auftauchte. Jahrzehnte lang war es in einer Schublade meines Hirns und meiner Seele in Vergessenheit geraten. Über seine plötzliche Entdeckung war ich so verblüfft, überrascht und erfreut, dass ich es einfach mit Ihnen teilen muss, so unspektakulär es auch ist.
Unweit von meinem Elternhaus gab es eine kleine Villa, in einem verwunschenen Garten. Dort wohnten zwei alten Damen.
Im Schwaben meiner Kindheit war es nicht ungewöhnlich, dass man, umgangssprachlich und für den Hausgebrauch, ledige Frauen „Mädle“ nannte, und sollten sie 90 Jahre alt sein. Was heute einen Aufschrei der Empörung auslösen würde, war völlig normal. Dabei war nicht ein Hauch von Diskriminierung oder Geringschätzung zu spüren, wenn mein Vater von diesen „Mädle“ sprach.
Besagte Damen also, in der kleinen Villa, inmitten jenes verwunschenen Gartens, waren Schwestern. Alice und Gertrud. Meine Mutter besuchte sie von Zeit und Zeit und versorgte sie mit etwas Gutem. Obst, Pralinen, Kaffee, Marmelade, einen Hefezopf, Weihnachtsplätzchen. Je älter sie wurden, brauchte es auch die eine oder andere Dienstleistung, wie Tisch- und Bettwäsche mangeln, oder etwas einkaufen. Meine Mutter hatte aufgrund ihres Berufes und dem Handwerksbetrieb meines Vaters nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung, und so schickte sie immer wieder uns Kinder zu den Fräuleins. Mein älterer Bruder musste hin und wieder zusammen mit meinem Vater oder alleine hin, um irgendetwas zu reparieren. Die beiden Damen lasen auch eine Zeitschrift, die meine Mutter ihnen organisierte und ich brachte sie den Fräuleins. So verdiente ich mein erstes Taschengeld als noch recht kleine Schülerin.
Ich ging gerne dorthin. Immer mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Vorsicht – man musste sich konzentrieren, dass alles richtig lief, gleichzeitig war ich aber immer auch voller gespannter Erwartung.
Die lange Straße, die zum Villa der Schwestern führte, mündete in den letzten 50 Metern in einer schmalen Gasse. Unmittelbar bevor diese in einen Spazierweg aus Kies und Gras mündete, begann der Garten der Fräuleins, der mit einem hohen Zaum umgrenzt war. Man musste erst zwei oder drei windschiefe Steinstufen hinaufsteigen, um das Gartentor zu öffnen. Dort gab es eine Klingel, aber ich durfte aufmachen ohne zu läuten. Ein Privileg, das war mir bewusst. Trotzdem sah ich mich immer vorher ein bisschen verschämt um. Was, wenn mich jemand beobachtete und dachte, ich sei eine freche Göre, die einfach in ein fremdes Grundstück eindringt? Ich liebte diesen Garten! Besonders im Frühjahr! Und ich brauchte jeweils in paar Minuten bis ich ihn, den unregelmäßig geformten Steinplatten folgend, bis zum Haus durchquert hatte. Nach den Winter war die Wiese erst voller Schneeglöckchen, dann Krokusse, Primeln, Tulpen. Ein paar knorrige Bäume, blühende Explosionen. Ihnen folgten die Rhododendren, dann die Rosen. Vögel, hin und wieder ein Eichhörnchen. Ich konnte einfach immer gucken und ein bisschen träumen und beobachten. Ich wusste genau, an welchem der Bäume eine Schaukel hätte hängen müssen. Und außerdem gab es eine Garage von der Sorte, die mir auch noch heute sofort ins Herz springt, wenn ich eine entdecke. Mit einem richtigen Satteldach und dunkelroten gewellten Ziegeln, zwei oder mehr kleinen Fenstern, meistens schmiedeisern vergittert, ein zweiflügeliges Tor. In meiner Fantasie stand es offen, die Sonne schien hinein und drinnen wohnten Tiere, oder Zwerge.
Eigentlich, so lautete die Anweisung meiner Mutter, sollte ich auf dem Weg zum Haus überprüfen, ob meine Kniestrümpfe nicht auf Halbmast hingen – es kam öfter vor -, ob meine Nase geputzt war und die Haare ordentlich. Obwohl ich das Haar geflochten trug, sah ich immer ein wenig zerzaust aus.
Wenn ich dann bei den Fräuleins auf den Klingelknopf drückte, nicht ohne vorher die schöne alte Schrift auf dem Messingschild an der Wand bewundert zu haben, war ich bereit: Die Worte zurechtgelegt, noch einmal die Schuhe an der Rückseite der Strümpfe abgerieben, keine Haarsträhnen über den Augen. Knicksen musste ich nicht mehr, das hielt meine Mutter nun wirklich für überholt, auch wenn die Damen das vielleicht gerne gesehen hätten. Sie waren immer beglückt, wenn ich kam. Nie wurde ich an der Haustür abgefertigt. Nie wie ein kleines dummes Kind behandelt. Heute glaube ich, dass die Fräuleins von Kindern eigentlich gar keine Ahnung hatten. Drinnen war für mich Märchen. Es sah alles aus wie aus der Zeit gefallen. Geknüpfte Brücken über orientalischenTeppichen, Deckchen über Tischdecken. Zeitungen über Büchern. Silberlöffelchen, Zuckerdosen, Mokkatässchen. Miniaturen an den Wänden, Scherenschnitte. Stoffbespannte Vitrinen und Schränke. Veilchenseifen-Geruch und Maiglöckchen Parfüm, Broschen und Stoffschuhe und weite Mäntel mit Pelzbesätzen, Hüte.
Irgendwann musste ich die Treppe ins Obergeschoss hinaufsteigen, weil Fräulein Alice nicht mehr runterkam und mich trotzdem sehen wollte, und mir übers Haar streichen. Fräulein Gertrud kam am Stock nicht mehr gut hinauf, tat aber so, als wäre es ein Klacks, das zu schaffen. Und ich tat so, als würde es mir überhaupt nichts ausmachen, hinter ihr her zu stehen, denn normalerweise war ich auf Treppen sehr flink unterwegs. Ich strich nebenher heimlich rechts an der dunklen Wandverkleidung entlang oder fuhr links über das gedrechselte Geländer, oder entzifferte die Titel der Zeitungsstapel, die auf den Stufen lagen, und versuchte herauszufühlen, was die Sätze bedeuten konnten.
Eine bestimmte Zeit musste ich auf jeden Fall bleiben. Zumindest bis ich artig alle Fragen beantwortet hatte und mir die Fräuleins notfalls sagen würden, dass ich jetzt wieder gehen dürfe. Ich kam zurecht. Selbst, wenn Fräulein Gertrud einen schlechten Tag hatte – und schlecht war schlecht. Aber weil mein Vater immer gütig und manchmal mit einem leichten Seufzer oder auch einem vielsagenden Lächeln, von den „Mädle“ sprach, beschloss ich, dass selbst ein schlechter Tag von Fräulein Gertrud mir nichts anhaben konnte. Außerdem lohnte es sich, auch wenn es nicht die Münzen waren, die mich zu den alten Fräuleins zogen. Wenn ich anderswo für einen ähnlichen Auftrag mal 50 Pfennige bekam, konnten es bei Fräulein Gertrud schon auch mal eine Mark sein. Manchmal eine Sarotti-Schokolade oder ein After-Eight. Da mir als Kind sowohl von Schokolade als auch von Pfefferminz übel wurde, verschenkte ich beides großzügig. Dafür waren mir die feinen runden Kekse mit Orangenaroma entschieden lieber oder nur ein Gletschereis-Bonbon. Doch auch ohne süßen Lohn war ich ganz zufrieden, denn ich war ja träumen gewesen, mitten im schnöden Alltag.
Nach meiner Konfirmation musste ich Kuchen hinbringen, Fräulein Alice war nur noch ein Schatten ihrer selbst und sie tat mir sehr leid. Als beide „Mädle“ tot waren, habe ich echt getrauert. Um die Geschichte dieser beiden Frauen, die sich irgendwann verloren hatten, um ihre Geschichte, die eigentlich erzählt werden sollte. Mein Vater wie er war, hätte am liebsten dieses Haus gekauft und das Grundstück. Heute müsste man sehr viel Geld haben, um das in seinen Besitz zu bringen, aber diese Gelegenheit gibt es gar nicht mehr. Haus und Grundstück hat die Stadt gekauft, heute ist es der Garten des Samariterstiftes und im Seniorenheim gibt es ein Alice und ein Gertrud K. Saal, womit man die Fräuleins würdigt. Mehr ist leider nicht. Auch von meinem Kindheitszauber ist rein äußerlich jegliche Spur verloren. Nur der in mir ist noch übrig.
Das Leben als solches ist es, das es lebenswert macht, weil es die Sehnsucht nach Gutem in sich trägt, das Indiz der Ewigkeit.
Gesegnete Ostern, bleiben Sie behütet, Ihre Elisabeth Eberle