Beuthen an der Oder 1913
Die Krone hing schief. Die ganze Zeit schon. Der Text saß. Den zu vergessen wäre einer wirklichen Niederlage gleichgekommen. Gelänge es, im Lot zu bleiben, würde vielleicht auch der Kopfschmuck zu halten sein – und auf seine Ohren konnte er zählen:
Wir sind in Gottes Händen, Bruder, nicht in ihren
Marschiert zur Brücke; jetzo naht die Nacht
Jenseits der Brücke wollen wir uns lagern
Und morgen weiter fort sie heißen ziehn
Jochen genoss den Beifall. Als die Krone endgültig zu Boden ging, störte es ihn nicht. Für zehnjährige Gelegenheitskönige war dies keine Katastrophe, zudem war es die letzte Verbeugung bevor der Vorhang fiel. Das heißt Hildegard und Erhard fielen lachend und kreischend von ihren Stühlen. Mit ihnen die schwarzen Stoffbahnen, die sie gerade lange genug hatten halten können, bis der Bruder dahinter verschwunden und somit alle gespannte Aufmerksamkeit in Beifall und Stimme des Publikums versunken war.
„In zehn Minuten zu Tisch bitte, verehrte Damen und Herren! “ Georg Klepper hatte sich selbst und seine Stimme erheben müssen, aber das war er ja gewohnt. Triumphierend blickte er in die Runde. So sah er den Salon am liebsten: Voller Menschen. Nicht zuletzt deshalb unterrichtete er mit Freude eine kleine Privatschulklasse, zu der auch seine eigenen Kinder zählten. Oft entstand aus den Unterrichten ohne lange Vorplanung ein kleines Hauskonzert. Pastor Klepper beherrschte einige Instrumente und war interessiert an allen neuen technischen Errungenschaften. Regelmäßige Lichtbilder- und Kinotoppvorführungen holten die Welt jenseits des seelenruhigen Städtchens in den Klepper’schen Salon. Dass ihr Pastor eigens mit seinem Auto nach Paris zur Weltausstellung gefahren war, beschien auch die treuen Beuthner Kirchenkinder mit ein bisschen Glanz und Modernität. In Schlesien leben und fromm zu sein, hieß noch lange nicht hinter dem Mond zu wohnen!
Vater Kleppers erster großer Erfolg dieses Herbstes schmorte seit einigen Stunden in der Terrine und wartete nur darauf, aufgetischt zu werden. Zu wessen Ärger er diesmal seine Beute vor der Nase weggetroffen hatte, versuchte er erst gar nicht herauszufinden. Er hinderte schließlich niemanden daran noch früher aufzustehen. Großmutter Weidlich war zur besonderen Freude der Kinder vor zwei Tagen angereist, und so hatten er und Hedwig beschlossen, schon mal ihre private Jagd- und Theatersaison zu eröffnen und eine erste Gesellschaft zu geben. Jährlich aufs Neue war er gerade in diesen Wochen besonders froh, nicht mit seiner lebhaften Familie im Pfarrhaus unter der direkten Beobachtung des Oberprimarius wohnen zu müssen. Wenngleich er seines Pastorenamtes mit Überzeugung waltete, überzeugten ihn Freiheit in Tun und Lassen ebenso sehr.
Der Hirsch war zart. Jetzt erst, da die ausgelassene Feierstimmung des ganzen Tages langsam wich, verspürte Jochen Hunger. Seine Wangen feuerten, ihm war heiß und es beengte ihn der steife Kragen. Glücklicherweise war Seth heute sein Gegenüber. Sie tauschten belustigte Blicke oberhalb und kameradschaftliche Fußstöße unterhalb des Tisches. Jochen musste sich etwas mühen gerade zu bleiben und nicht zu tief zu rutschen. Nur kein Malheur mit Besteck oder Bratensoße riskieren! Weiße Tischtücher verrieten alles und Waschfrauen verziehen nichts. Seth war ihm einfach mit einer gewissen Kraft voraus, obwohl er jünger und ebenso wenig wie Jochen groß und stämmig war. „Wäre morgen noch einmal eine Ausfahrt drin, was denkst Du?“ Jochen rollte mit den Augen und sog die Luft ein. Nichts ließ sich so herrlich leicht in dramaturgischer Gebärde beantworten, wie eine harmlose Frage. Aber dazu kam er nicht: Es fuhr ihm ein heftiges Stechen in die Lunge und löste einen Krampf in seiner Luftröhre aus. Nicht jetzt, wo es doch heute so schön war! Jochen umklammerte seine Gabel. „Mach den Kragen ab!“, flüsterte Seth eindringlich und schielte zum oberen Teil der Tafel, an der die Erwachsenen sich lebhaft unterhielten. Ob es klug wäre einen Blick seines Vaters zu erhaschen oder nicht? Sanitätsrat Demel war der behandelnde Arzt der Kleppers und mit Jochens Asthma betraut. Ein erneuter Blick auf den Freund beruhigte Seth bereits wieder: Jochen schien sich gefangen zu haben. Dem Verhalten der Mädchen nach hatten die von all dem nichts bemerkt. Sie gestikulierten mit Händen und Bestecken, und lachten laut. Beides zusammen genommen, ging wohl für ihr Alter schon als nicht mehr damenhaft durch. „Nun, fragen wir Vater doch nachher einfach“, japste Jochen, froh, dass alles so glimpflich vorbei gegangen war und keinerlei Aufmerksamkeit nach sich gezogen hatte. In solchen Angelegenheiten war ihm Publikum verhasst.
Wenn ihm nur nicht so entsetzlich heiß wäre! Er lehnte sich zurück und verspürte plötzlich eine große Müdigkeit. Liegen und schlafen müsste jetzt schön sein; Morgen dann, vielleicht nach dem Nachmittagstee, eine Ausfahrt mit dem Auto, alle Kinder. Noch einmal, bevor die Eiswinde den ersten Schnee über die Oder brächten und Mutter ihn endgültig nicht mehr mitfahren lassen würde. „Schläft Du? Feiner Heinrich der Fünfte!“ Jochen riss die schweren Lider nach oben und funkelte Margot an: Wortlos. Die schüttelte nur die vollen Locken. Schwestern! Allein seine augenblickliche Lahmheit verhinderte es, ihr genau jetzt seinen schon länger genährten Gedanken geradeheraus ins Gesicht zu schleudern: „Kurze Haare würden dich viel eleganter machen!“
Der letzte Rest Mohnpudding war kaum verzehrt, da stieß Jochen erneut Seths Füße an. Er bedeutete ihm, dass man einen Versuch wagen könne vom Tisch zu gehen, ohne zuvor die Erlaubnis bei den Eltern eingeholt zu haben. Erhard rutschte schon seit Minuten unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sah inständig bittend zu ihnen. Es schien ihm tatsächlich gelungen, das ganze Mahl ohne Spuren auf Jacke oder Hose aufzuessen. Zumindest nachdem, was man von der Ferne beurteilen konnte. Hast Du gut gemacht, Kleiner. Jochen genoss das Gefühl solch banaler Leichtigkeit wie dieser. Es machte die Müdigkeit plötzlich angenehm. Der häusliche Friede war den ganzen Tag überaus stabil gewesen und es war kaum zu befürchten, jetzt noch durch ein Fehlverhalten eine Missstimmung heraufzubeschwören. Sie steuerten das Zimmer der Jungs an. Dort warteten die Spielkarten mit den neuesten Schiffen der Kaiserlichen Marine. Großmama hatte sie aus der riesigen Spielwaren-Abteilung von Tietz aus Nürnberg mitgebracht. Bis so etwas im winzig kleinen Ladengeschäft für solcherlei Dinge in „Kuhbeuthen“ ankam, vergingen halbe Ewigkeiten. Sie spielten sich hitzig. Erhard mochte nicht, wenn er verlor.
Jochen überließ ihm hin und wieder großzügig seine Stiche. Als sie ermüdeten, warfen sie die Karten auf einen Stapel und wandten sich Büchern und Magazinen zu, die sich in einem Weidenkorb, säuberlich aufgereiht, neben Jochens Bett befanden.
Ein merklich kalter Luftzug wehte durch die offene Tür, als Sanitätsrats an diesem Abend das Haus verließen. Sie waren mit Abstand die letzten. Erhard steckte auf Befehl der Mutter schon im Pyjama, aber Jochen hatte noch mit Seth zur Tür kommen dürfen. Der Abschied ergab keine lange Prozedur, sie fröstelten alle deutlich. „Schnattern da etwa von weitem schon die Brieger Gänse?“ rief der Gastgeber seinen ins Schummerlicht einer trüben Laterne entschwindenden Freunden nach. „Mais non, mon Chèr das wird noch lange dauern und nun prophete nicht gar so geräuschvoll herum, das ist hier nicht die Kanzel und was sollen die Leute von Pasters denken, um diese Uhrzeit!“ Hedwig Klepper zog ihre Stola noch fester um die Schultern und versetzte ihrem Gatten einen freundschaftlichen Rippenstoß.
Dieser küsste seine Frau so blitzschnell in den Nacken, dass sie kurz aufschrie. Jochen überfiel Glück. Tiefes Glück. Warum konnte es nicht immer so sein zwischen den Eltern? Warum nur konnten sie auch so unerbittlich streiten und ihm dabei das Herz zerteilen? Alle Scheu fiel plötzlich von ihm ab und er hakte sich zwischen beiden unter. Wortlos sah er von einem zum anderen, selig, den muskulösen Arm auf der einen, den weichen auf der anderen Seite zu spüren. Einen so stattlichen Vater und eine schöne Mutter zu haben war doch ein Privileg, und dazu in einem großen Haus mit so vielen Annehmlichkeiten zu leben. Nicht alle Kinder hatten das. Das wusste er längst.
Beflügelt vom Tage, stahl er sich noch einmal rasch über den bereits dunklen Flur. Ohne anzuklopfen drückte er vorsichtig die Klinke an einer der Zimmertüren herunter: Großmama! „Gehst Du morgen zu uns oder ins Hochamt?“ „St. Stephan“, lispelte Großmama mit Feinmädchenstimme, und fiel dann sofort in einen kehligen Brustton: „Aber das nächste Mal zu Hochwürden Pastor Klepper, in Ewigkeit AMEN!“ Jochen bog sich vor Lachen. „Psst!“ Großmama wusste nur zu gut, dass man ihn längst im Bett wähnte. Im Hinausschleichen begriffen, wandte er noch einmal einen Blick zum Waschtisch. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Joachim? Er straffte sich. „Warum bist du heute Abend eine Zeitlang so blass gewesen?“ Sie hatte es also bemerkt, Seth und sie, sonst keiner. „Komm her!“ Großmama breitete ihre Arme aus. Wie weich ihr seidener Nachtrock war. So könnte man einschlafen. Er fühlte ihren Kuss auf der Stirn: „Dieu te garde!“ Gott schütze Dich!
¹ Shakespeare, König, Heinrich der V …
² Hildegard Klepper (1898-1990) zweites Kind von Hedwig und Georg Klepper
³ Erhard Klepper (1906-1980) viertes Kind
⁴ Seth Demel, Schulkamerad und Kindheitsfreund Jochens
⁵ Margot Klepper (1895-1980) ältestes Kind von Georg und Hedwig Klepper
⁶ Brieger Gänse Niederschlesische Bezeichnung für die oft hoch aufgetürmten Eisschollen der Oder
⁷ Französisch gehörte bei Kleppers zum Alltag. Die Urgroßmutter mütterlicherseits stammt aus Frankreich
⁸ Schlesisch: Pastors