Miniaturen – feine Skizzen zum Menschsein

Miniaturen – feine Skizzen zum Menschsein

Miniaturen Elisabeth Eberle Buchausshnitt
Miniaturen Elisabeth Eberle Buchausshnitt

Artenvielfalt

Es gibt zwei Arten von Menschen. Pünktliche und Unpünktliche. Die Pünktlichen sind gleichzeitig auch die Besseren, die Unpünktlichen müssen sich lediglich mit der Rolle der anderweitig Guten begnügen. Diese erweiterte Unterteilung der Arten schafft zusätzliche Klarheit, denn man weiß, mit wem man es zu tun hat. Ziemlich sicher und ziemlich sicher für das ganze Leben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Pünktliche unpünktlich und Unpünktliche vor der Zeit da sein werden, ist unwahrscheinlich.

Man kommt ziemlich orientiert mit all jenen Menschen über die Runden, mit denen man mehr teilt, als nur die allmorgendliche Abfahrtszeit der S- Bahn; so zum Beispiel das Büro, die Werkstatt, die Schwiegereltern, die Schulbank, die Gedanken, die Angelrute, den Platz im Café, den Re- genschirm, die letzte Zigarette, das Butterbrot, die Zuneigung, das Badezimmer, die Zeitung und das Bett. Eins aber bedarf es zu wissen: ob sie Pünktliche oder Unpünktliche sind.

Treffen im Leben zwei Pünktliche aufeinander, gibt es nichts hinzuzufügen.
Treffen im Leben zwei Unpünktliche aufeinander, gibt es Mobilfunknetze. Treffen irgendwann im Leben ein Pünktlicher und ein Unpünktlicher aufeinander, geht das nicht mit rechten Dingen zu. Ein Besserer ist niemals zur selben Zeit am selben Platz mit einem lediglich anderweitig Guten.

Zeitzonen. Zwischen 20 und 20 Uhr liegen Wüsten. Zwischen 5 und 5 Uhr wachsen Regenwälder. Zwischen 16 Uhr Dreißig und 16 Uhr Dreißig rauschen Ozeane. Zwischen Zeitzonen hängen Hängebrücken. Treffen nun irgendwann im Leben ein Pünktlicher und ein Unpünktlicher aufeinander, kann es also niemals den rechten Dingen zu verdanken sein. Es wird auf den Zustand der Hängebrücke ankommen. Pünktliche nennen es für gewöhnlich Liebe. Liebe ist stark.

Elisabeth Eberle

Ich halte dich

„Ich halt dich, weil du aussiehst als Liebe.“ Stimmt: Korrekt ist dieser Satz nicht. Dennoch steht er in einem Buch. Es gibt in diesem Fall eben keinen, der korrekter sein könnte. Er ist ein Herzenssatz.

Er stammt von Sabriye. Als sie ihn mir ins Ohr flüstert, ist sie Sieben, ich bin 18 Jahre alt.

Sabriye ist ein Migrantenkind. Ihre kleine Lebenswaage schwankt zwischen unterschiedlichsten Kulturen, Sprachen, Religionen, Mentalitäten, Gepflogenheiten und eben Menschen. Sie ist sehr anhänglich. Eigentlich soll sie nicht ständig an mir „kleben“ und so viel auf meinem Schoß sitzen, sagt man mir. Ich bin neu in der pädagogischen Einrichtung und unerfahren, was diese Art Lehrsätze betrifft. Meine Erfahrung mit Kindern beruht darauf, dass meine eigene Kindheit gerade vorüber und meine Erinnerungen klar genug sind und ich stets genug Kinder um mich herum hatte, vom wenige Stunden alten Säugling bis zum Hoch- betagten – unterschiedlichster Couleur. Das ist alles.

Sabriye sei auch manchmal schwierig, unterrichtet man mich. Sie mache manche Dinge einfach nicht, die aber normal und harmlos seien und wichtig für ihre Entwicklung. Niemand verlange von ihr etwas, was ein Affront gegen ihre Herkunft wäre. Trotzdem verschließt sie manchmal ihr überaus hübsches Kindergesicht mit den großen braunen Augen und den schön geschwungenen Lippen. Dann ist es mir beinahe so, als ginge sie in einem Nirgendwo verloren, diese kleine Prinzessin aus Tausend- und-einer-Nacht. Mich schmerzt es, wenn ich Sabriye so erlebe.

Also lasse ich sie weiter auf meinem Schoß sitzen, solange sie malt oder isst, Letzteres tut sie allerdings selten. Sie liebt es, wenn ich ihr vorlese, und gar nicht so selten schläft sie dabei ein. Einmal sitze ich, entgegen aller Regeln, solange mit ihr, bis sie von selbst aufwacht. Es trägt mir bei den Kolleginnen keine Pluspunkte ein.

Dann, eines Tages, erschüttert sie etwas – zu sehr wohl.
Erst kommt sie über mehrere Wochen lang gar nicht in den Kindergarten. Dann erscheint sie, verändert. Spricht wenig, ist scheu, sieht niemandem in die Augen. Sie ist blass, hat dunkle Ringe unter den Augen. Wir erfahren nicht, was ihr widerfuhr.

Auch zu mir ist sie äußerst zurückhaltend. Sieht mich nur flüchtig an, wenn ich mit ihr spreche. Es bekümmert mich unendlich. Ich bin 18 und ganz und gar nicht abgeklärt. Ich solle sie einfach in Ruhe lassen, rät man mir. Es fällt mir schwer, aber ich halte mich an die Anweisung. Wir beäugen und belauschen uns von Ferne, die Prinzessin und ich.

Plötzlich bricht das Eis. Sie will auf meinen Schoß, in einem Augenblick, in dem ich gar nicht damit rechne. Ich kann gar nicht anders, als sie schweigend zu liebkosen. Dann sagt sie diesen Satz. „Ich halt dich, weil du aussiehst als Liebe.“