Paulina

Paulina

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Leseprobe

Die Wohnungstür im ersten Stock schlug zu. Sie nahm zwei Stufen auf einmal, zuerst die Holz- dann die Steintreppe hinunter, zum Glück stand die Tür vom Flur in den Laden offen. Im Vorbeigehen ließ sie etwas von einem der silbernen Tabletts mitgehen und bahnte sich dann blitzschnell zwischen ein paar Kunden und einem der hohen Tische hindurch einen Weg, um den Laden durch die Tür zur Straße zu verlassen.
„Wiedersehen, Großmama!“
Charlotte hatte geahnt: Die Mappe fiel zu Boden und deren gesamter Inhalt landete halb unter, halb vor der Ladentür. In Windeseile stopfte Paulina alles zurück, während Charlotte feststellte, dass sie noch nicht einmal den Mantel zugeknöpft hatte, geschweige denn Schal und Handschuhe trug. Sie schüttelte den Kopf. 
„Nun lauf!“, rief sie nur so laut, wie sie es für die Kundschaft gerade noch verträglich hielt.
Paulina rannte, was das Zeug hielt.
Das Fräulein sah es nicht gerne, wenn man zu spät kam und sie war immer zu spät, was dessen Geschmack von Pünktlichkeit betraf. Gewöhnlich stieß sie auf ihre Vorgänger wenn diese das Haus bereits verließen, meistens gaben sei sich den schweren Türknopf direkt in die Hand. Am Gesichtsausdruck der anderen konnte Paulina oft erkennen, welche Art von Stimmung sie oben in der Wohnung der Lehrerin antreffen würde, und je nachdem ging sie im Geist noch schnell die kritischen Stellen ihrer Stücke durch oder sie rannte pfeifend die Treppe hinauf und rief, sobald sie die geöffnete Wohnungstür sah: „Ich komme schon!“
Heute allerdings hatte sie das große Mädchen, das zurzeit die Stunde vor ihr belegte, schon die Straße überqueren sehen, bevor sie mit erhitztem Gesicht das Haus betrat. Sie musste sich auf eine kleine Rüge gefasst machen, das war klar!
Vorsichtig schob sie sich durch die Wohnungstür in den mit schweren Teppichen ausgelegten Flur, zog die Tasche über den Kopf und die Mütze gleich mit, den Mantel aus und versuchte, ihn an den Garderobenhaken zu befördern. Er kam sofort wieder herunter. Großmama hatte also immer noch nicht die abgerissene Schlaufe angenäht! Paulina beließ alles, wie es dabei, als sie urplötzlich ein befremdliches Gefühl beschlich, da ihr eben erst auffiel, dass sie noch keinen Laut vernommen hatte. Auf Zehenspitzen schlich sie den Flur entlang und schlüpfte durch die angelehnte Tür des Musikzimmers. Zuerst dachte sie, es wäre niemand da, dann erschrak sie: Fräulein Gustorff saß in sich zusammengesunken in dem Sessel aus dunkelbraunem faltigem Leder, die mageren Hände lagen in ihrem Schoß. Paulina war so überrascht, dass sie völlig vergaß, Guten Tag zu sagen. 
„Schön, dass du kommst!“
Ein verlegenes Lächeln huschte über Helene Gustorffs Gesicht. Dann zog sie ein weißes Spitzentaschentuch aus ihrer Rocktasche, seufzte tief und erhob sich.
Paulina stand unschlüssig neben dem Drehstuhl und umklammerte ihre Mappe. Noch nie hatte sie ihre Klavierlehrerin in einem solchen Zustand erlebt. Natürlich war sie, wie einige ältere Fräuleins, die Paulina hauptsächlich aus der Kundschaft ihrer Großmama kannte, ein bisschen zerbrechlich, ein bisschen streng und sehr gründlich mit dem, was sie so sagte und einforderte. Sie war mit eher altmodischer Eleganz gekleidet und lebte in einer altertümlichen und nach Lavendel duftenden Wohnung. Aufrecht und erhobenen Hauptes sah sie ihrem Gegenüber immer geradewegs in die Augen. Diese Haltung verschaffte ihr trotz ihrer geringen Körpergröße einen beinahe unantastbaren Respekt. Trotzdem war sie in der Lage, echtes Interesse an ihren Zöglingen ja, sogar Zuneigung zu zeigen. Sie wollte nicht als unzufriedene alte Jungfer gelten und eines Tages vielleicht ohne Schüler dastehen, diese waren sozusagen ihre Familie. Seit vielen Jahren war sie eine der begehrtesten Klavierlehrerinnen Dresdens. Zwei von „ihren Kindern“ hatten sogar den Grundstock einer Solistenkarriere bei Fräulein Gustorff gelegt bekommen. Darauf war sie ein bisschen stolz, obwohl sie niemals von sich aus die Sprache darauf brachte. Es war ihr schon des öffentlichen Ruhms genug, wenn sie bei den halbjährlichen Vorspielen ihrer Klassen mit einem Blumenstrauß beschenkt und mit vielen Lobeshymnen von ehrenrührigen Herren und Damen überschüttet wurde.

Was war nur mit dem Fräulein los? Wollte sie etwa sterben und sie hier alleine lassen? Paulina spürte etwas im Bauch – dabei hatte sie heute doch nur zwei von Großmamas Pralinés stibitzt.
Sie stellte Czerny’s Studienwerke – Special Etüden für die Mittelstufe auf das Notenpult und ließ sich nieder. Nummer 37. Ihre Finger zitterten ein ganz klein wenig, als sie die Hände auf die Tasten legte. Dann begann sie zu spielen. Das erste Stück war ein Allegro in C-Dur, Viervierteltakt. Eigentlich kein Problem und doch benötigte sie heute zwei Anläufe, bevor sie, ohne sich zu verhaspeln, über die ersten beiden Zeilen hinauskam. Dann aber lief es wie geschmiert, wie Großvater es nannte, wenn sie über die Tasten fegte. Auch die zweite Seite der Etüde, in welcher die linke Hand die schnellen Läufe der Achtel übernehmen und die rechte die entsprechenden Akkorde dazu finden musste, stellten keine besondere Herausforderung dar. Fräulein Gustorff wiegte zufrieden den Kopf. „Hervorragend, das hast du wirklich gut gemacht, auch der Fingersatz hat gestimmt.“
Paulina sah ein wenig überrascht von ihren Noten auf. Woher konnte die Lehrerin wissen, dass gerade der Fingersatz korrekt gewesen war? Sie hatte doch nicht einmal ihre Hände gesehen, weil sie ganz anders als sonst nicht direkt hinter ihr stand. Stattdessen war Fräulein Gustorff von dem Augenblick, als sie zu spielen begonnen hatte, an eines der hohen Fenster getreten und hatte die ganze Zeit über nach draußen geblickt. Selbst jetzt stand sie noch dort, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Hände ineinander gepresst.
„Hol den Bach heraus!“
Gehorsam schlug Paulina das Etüdenbuch zu. Verwundert und erleichtert zugleich, dass die Lehrerin die beiden anderen Etüden, die weitaus schwerer waren und die sie auch noch nicht ganz fehlerfrei beherrschte, scheinbar nicht hören wollte.
Da eine weitere Anweisung ausblieb, öffnete sie den Bach, korrigierte ihre Sitzhaltung und begann einfach an einer Stelle zu spielen. Es war die Bearbeitung des Schlusschores aus der Kantate Herz und Mund und Tat und Leben. Vor geraumer Zeit, als Großvater auf dem Sofa lag und sein Nachmittagsschläfchen halten wollte, aber mit offenen Augen in die Luft starrte, hatte sie es gewagt, von ihren Schularbeiten aufzustehen, sich ans Klavier zu setzen und ganz leise dieses Stück zu spielen. Irgendwie mochte sie es.
„Spiel nur weiter, Kind“, hatte er gesagt und die Augen geschlossen, als sie vorsichtig zu ihm hinübergesehen hatte. Nach zwei Durchläufen war er dann eingeschlafen, was unschwer an seinem regelmäßigen Atem zu erkennen war, der nur von gelegentlichen Schnarchern unterbrochen wurde. Auch wenn Kolja, ihr Leib- und Magenfreund, wie Großmama ihn betitelte, wieder einmal traurig war, weil sein Vater betrunken und teilnahmslos zu Hause herum lag und der Junge bei den Seeligmanns Zuflucht suchte, konnte es sein, dass dieser sie bat: „Spiel das Lied, du weißt schon.“
„Es ist kein Lied, es ist ein Choral“, korrigierte sie ihn dann gewöhnlich und rollte die Augen. Es war nur gespielte Empörung. Kolja wusste das genau und spielte dieses Spiel mit.
Jedenfalls schien von dem Stück ein geheimnisvoller Trost oder zumindest eine Art Beruhigung auszugehen. Paulina hoffte an diesem Nachmittag, damit wenigstens einen Teil von Fräulein Gustorffs Traurigkeit wegspielen zu können. Sie wollte ihre Lehrerin mit einem perfekten Vortrag erfreuen und schlug ein nicht allzu schnelles Tempo an. Manchmal hatte das Fräulein den Text auch schon mitgesungen oder wenigstens leise mitgesummt, er war ja immer nur stückweise in die harmonische Begleitung eingeflochten. Es ging über vier Seiten, was ihr genügend Gelegenheit gab, immer wieder einen Blick auf die Lehrerin zu werfen, ohne dass sie den Faden verlor.
Unablässig sah die Siebzigjährige zum Fenster hinaus. Paulina konnte keine Regung ihres Körpers erkennen. Da wurde sie schließlich doch ein wenig unsicher, ob sie das Richtige tat, ob Fräulein Gustorff ihr überhaupt zuhörte oder ob sie deren Traurigkeit durch das Spiel nur noch größer machen würde. Sie begann leiser zu werden und wollte eben ganz aufhören, als sie hörte:
„Er ist meines Lebens Kraft. Spiel weiter!“
Paulina setzte da ein, wo sie soeben aufgehört hatte, und spielte in einem angenehmen Mezzoforte das ganze Stück zu Ende, während die Lehrerin die Textpassagen an den entsprechenden Stellen mitsang, während sie sich ihrer Schülerin zuwandte, mit der alten aufrechten Haltung, wie immer. Es gab also Hoffnung, dachte Paulina.
Als sie fertig war, legte sie die Hände in den Schoß und sah Fräulein Gustorff fragend an: „Besser?“
„Viel besser!“ Auch ihre Stimme klang wie immer.
„Wenn ich dich nicht hätte!“ Paulina legte den Kopf in den Nacken und lachte.